Was heisst persönliche Verantwortung in einer Diktatur?

Titel eines schmalen Bändchens aus dem Nachlaß von Hannah Arendt. Der darin dokumentierte Vortrag stammt aus den Jahren 1964/1965. Der Originaltitel des Textes lautet : »Personal Responsibility under Dictatorship« und blieb zu ihren Lebzeiten unveröffentlicht. An welches Publikum Arendt ihn adressierte, ist nicht bekannt.

Das Bändchen wurde herausgegeben von Marie Luise Knott und ist im Piper Verlag, München, 2018 erschienen.

Ein paar Zitate daraus (Hervorhebungen u. Anmerkungen von mir):

»Keiner dieser Befehle war planlos ergangen, um unzusammenhängende Verbrechen zu verüben, sondern sie dienten, mit äußerster Konsequenz und Sorgfalt ausgeführt, dem Aufbau der sogenannten Neuordnung. Und diese Neuordnung war genau das, was das Wort besagte – sie war nicht nur auf grauenhafte Weise neu, sondern vor allem auch eine Ordnung.« ["Aufbau der sogenannten Neuordnung" ...]

»... das nihilistische Credo des 19. Jahrhunderts lautete ja: »Alles ist erlaubt«.« [Das korrespondiert für mein Dafürhalten doch irgendwie mit dem postmodernen "Schlachtruf" : "Anything goes"! Oder? ... → Wikipedia : https://de.wikipedia.org/wiki/Anything_goes]

»Wenn es überhaupt noch eines Beweises dafür bedurft hätte, in welchem Ausmaß ein ganzes Volk – unabhängig von Parteizugehörigkeit und unmittelbarer Beteiligung – einfach deshalb an die Neuordnung glaubte, weil sie sich eben vollzog, dann wurde dieser Beweis mit der unglaublichen Bemerkung erbracht, die Eichmanns Verteidiger, der selbst nie NSDAP-Mitglied gewesen war, zweimal während des Prozesses in Jerusalem machte: Bei dem, was in Auschwitz und in den anderen Vernichtungslagern geschehen sei, habe es sich um eine »medizinische Angelegenheit« gehandelt.« ... [Habe ich das richtig verstanden? Die Geueltaten in Ausschwitz et al. seien "medizinisch" begründet gewesen? und weil sie von "offizieller" / staatlicher Seite vollzogen wurden, glaubte die Masse, daß das alles schon "irgendwie rechtens" sein müsse?]
»Problematisch war das neue Regime damals lediglich wegen der Komplexität der Vereinnahmung, darunter das Eindringen der Kriminalität in den Bereich des Öffentlichen. ... Die Frage der Moral tauchte erst mit dem Phänomen der Gleichschaltung auf, weniger aus einer sich aus Angst speisenden Heuchelei, sondern mehr aus diesem sehr früh an den Tag gelegte Eifer, nur ja nicht den Zug der Geschichte zu verpassen, und mit diesem sich manchmal über Nacht vollziehenden Gesinnungswandel, der die große Mehrheit der öffentlichen Personen quer durch alle Schichten und Berufe erfasste, während lebenslange Freundschaften mit unglaublicher Leichtigkeit aufgekündigt und abgebrochen wurden. Kurz gesagt, was uns verstörte, war nicht das Verhalten unserer Feinde, sondern das Verhalten unserer Freunde, auch wenn sie für das, was geschehen war, eigentlich nichts konnten; sie waren nicht verantwortlich für die Nazis, sondern nur von deren Erfolg beeindruckt, und sie waren unfähig, ihr eigenes Urteil gegen den, wie sie es sahen, Urteilsspruch der Geschichte zu setzen. Ohne diesen fast vollständigen Zusammenbruch, weniger der persönlichen Verantwortung als vielmehr des persönlichen Urteilsvermögens in den Anfangszeiten des Nationalsozialismus, kann man unmöglich verstehen, was tatsächlich später geschehen ist.« [Während ich das las, und mir die Ereignisse seit Anfang 2020 vergegenwärtigte, mußte ich unwillkürlich an eine Aussage von Altkanzler Helmut Schmidt in einem Interview in der FAZ vom 8.4.2005 denken: "Die Deutschen bleiben ein gefährdetes Volk." Leider haben die Ereignisse seit Anfang 2020 seine Befürchungen bestätigt! ...]

»Die totalitäre Gesellschaft ist im Unterschied zur totalitären Herrschaft tatsächlich monolithisch; alle öffentlichen Äußerungen kultureller, künstlerischer oder wissenschaftlicher Art, alle Organisationen wie Wohlfahrt, Sport und Unterhaltung sind »gleichgeschaltet«. In allen Büros und in der Tat in allen Jobs, die irgendwie von öffentlichem Belang sind – von Werbeagenturen bis zum Gerichtswesen, vom Schauspieler bis zum Sportjournalisten, von der Grund- und Hauptschule bis zu den Universitäten und Gelehrtengesellschaften –, wird verlangt, dass man die herrschenden Prinzipien vorbehaltlos akzeptiert. Jeder, der überhaupt am öffentlichen Leben teilnimmt, unabhängig davon, ob er Parteimitglied ist oder den Eliteformationen des Regimes angehört, ist auf die eine oder andere Weise in die Taten des Regimes als Ganzes verstrickt. ... Denn in Wahrheit war es so, dass nur diejenigen, die sich völlig vom öffentlichen Leben zurückzogen und jede Art von politischer Verantwortung ablehnten, es vermeiden konnten, in politische Verbrechen verwickelt zu werden – das heißt, sie konnten juristischer und moralischer Verantwortung aus dem Weg gehen.«

»Bei der Enthüllung der beispiellosen Mittäterschaft aller Schichten der offiziellen Gesellschaft an den Verbrechen, das heißt bei der Aufdeckung des vollständigen Zusammenbruchs der gängigen moralischen Maßstäbe, wurde das nachfolgende Argument in endlosen Variationen vorgebracht: "Wir, die wir heute schuldig erscheinen, haben in Wahrheit nur durchgehalten, um Schlimmeres zu verhindern; nur wer dabeigeblieben ist, hatte die Möglichkeit, mäßigend einzuwirken und zumindest einigen Menschen zu helfen; wir zollten dem Teufel Tribut, ohne ihm jedoch unsere Seele zu verkaufen, während jene, die nichts taten, sich vor jeder Verantwortung drückten und nur an sich und an die Rettung ihres Seelenheils dachten."« [JA, um Argumente des Schönredens, des sich Windens und sich schließlich sogar als Opfer gerierens etc. ist diese Kaste nie verlegen! Und am Ende erteilen sie sich zum krönenden Abschluß auch noch selbst die Absolution!... Ich denke, daß die einzig vernünftige Haltung gegenüber dieser Kaste, das (beharrliche) Schweigen ist! Wie der wiedergekommene Christus in der Parabel vom Großinquisitor in Dostojewskis "Die Brüder Karamasow"! ... ]

»Denn ein totalitäres Regime kann nur von innen gestürzt werden – nicht durch eine Revolution, sondern durch einen Staatsstreich –, es sei denn, es wird in einem Krieg besiegt.« [!!]

[Zur Überlegung, daß man evtl. ein kleineres Übel begehen, dulden oder hinnehmen müsse, um ein größeres zu verhindern, zitiert H.A. aus dem Talmud:] »Wenn man von Euch verlangte, für die Sicherheit der Gemeinschaft einen Mann zu opfern, so liefert ihn nicht aus. Wenn man von Euch verlangte, eine Frau auszuliefern, die zur Rettung aller anderen Frauen geschändet werden soll, dann lasst nicht zu, dass sie geschändet wird.«" [und Papst Johannes XXIII. unter dem Stichwort »Praxis und Klugheit« über das Verhalten von Papst und Bischof:] »Sie müssen sich davor in Acht nehmen … sich in irgendeiner Weise mit dem Bösen in der Hoffnung einzulassen, dass dadurch irgendjemandem geholfen werden könne.« [JA, so ist es! Mit dem Teufel verhandelt man nicht! NIEMALS!]

»Politisch betrachtet bestand die Schwäche des hier zur Diskussion stehenden Arguments schon immer darin, dass diejenigen, die das kleinere Übel wählen, rasch vergessen, dass sie sich für ein Übel entscheiden. Da das Übel des Dritten Reiches schließlich so ungeheuerlich wurde, dass man es beim besten Willen nicht mehr als »kleineres Übel« bezeichnen konnte, hätte man annehmen können, dass diese Argumentation nun ein für alle Mal zusammengebrochen wäre, was erstaunlicherweise nicht der Fall ist. ... dass das Argument des kleineren Übels nicht etwa nur von jenen ins Feld geführt wird, die nicht zur herrschenden Elite gehören, sondern längst zum integralen Bestandteil der Terror- und Verbrechensmaschinerie gemacht wurde. Die Hinnahme kleinerer Übel wird bewusst dafür benutzt, die Beamten wie auch die Bevölkerung im Allgemeinen daran zu gewöhnen, das Übel an sich zu akzeptieren. Um nur eines von vielen Beispielen zu geben: Der Vernichtung der Juden ging eine schrittweise Folge antijüdischer Maßnahmen voraus, welche jeweils gebilligt wurde mit dem Argument, dass die Weigerung, daran mitzuwirken, nur alles verschlimmert hätte – bis eine Stufe erreicht war, dass Schlimmeres überhaupt nicht mehr passieren konnte. Die Tatsache, dass in diesem letzten Stadium das Argument des kleineren Übels nicht über Bord geworfen wurde und dass es selbst heute noch fortlebt, nachdem dessen Irrtum so klar auf der Hand liegt, ist erstaunlich genug« [Ich denke, das ist tatsächlich ein Signum teuflischen Handelns, daß er die Menschen (schleichend) in sein Treiben verstrickt, bis es – wirklich oder vermeintlich – kein Zurück mehr gibt! ...]

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